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Schreibwerkstatt der Dichterin Safiye Can

Lyrik macht Schüler mutiger

Safiye Can

Schlimmer als Algebra und binomische Formeln! So drastisch beschreiben Schülerinnen und Schüler ihre Erfahrungen mit Gedichtinterpretationen in der Schule. Auch im späteren Leben finden sie oft keinen Zugang mehr zur Lyrik. Das findet die Offenbacher Dichterin Safiye Can tragisch – und vor allem höchst unnötig. Mit ihren Schreibwerk­stätten hilft sie jungen Menschen dabei, ihre Kreativität zu entdecken. Sie sind danach stolze Mit­glieder des Dichter-Clubs, und in aller Regel haben sie nicht nur etwas über Sprache, Rhythmus und Ausdruckskraft gelernt. 


tl_files/ausbildungsplatz/img/Redakteurmaterial/Newsbilder im Artikel/Safiye_Newsbild.jpgFrau Can, es gibt gar nicht so wenige Schüler, die ein gutes Wort über ihre Deutschlehrer verlieren, wenn sie an ihre Schulzeit zurückdenken. Aber fast jeder verdreht die Augen, wenn es um das Thema Gedichte geht. Warum ist das so? 

Safiye Can: Die Vermittlung von Lyrik wird oft ganz unattraktiv gestaltet, nicht auf Verständnis hinzielend, nur fordernd, null spielerisch. Es wird viel auswendig gelernt. Manche Lehrer orientieren sich allein an Inter­pretationshilfen und erwarten, dass die Schüler diese Inhalte brav wiederkäuen. Dass das nicht lebendig ist, liegt auf der Hand.

 

Dem wollen Sie mit ihren Schreibwerkstätten entgegentreten?

Ja, natürlich. Das Wichtigste ist, dass Kinder und Jugendlichen Freude an der Literatur haben. Ich will Ihnen Angst und Vorurteile nehmen, möchte, dass sie selbst merken, wie kreativ sie sind. Kaum ein Erwachsener liest Gedichte in diesem Land, das will ich ändern.

 

Und Sie schaffen es tatsächlich, dass Schüler einen Zugang zur Lyrik finden?

Ja, indem sie selbst Gedichte schreiben. Wobei es nicht nur um das Schreiben selbst geht – mit Lyrik kann man so viel mehr erreichen. Das Schreiben von Gedichten, allein oder in kleinen Gruppen (bis maximal drei SchülerInnen), mit anschließender Präsentation der Texte in der Aula zum Beispiel oder auf liebevoll gestalteten Plakaten – all das stärkt den Klassenzusammenhalt enorm. Manche Jugendliche überwinden durch das Schreiben ihre Introvertiertheit, in einer Weise, dass die Lehrer erstaunt sind. Die jungen Menschen lernen, ihre Gefühle auszudrücken und sich Problemen zu stellen, was ent­lastend ist. Insgesamt stelle ich immer wieder fest: Die Schüler werden mutiger! 

 

Das klingt so gut, dass man sich fragt, warum es nicht überall in der Republik solche Werkstätten gibt.

Die Organisation von Schullesungen oder Schreibwerkstätten hängt meist von einer engagierten Lehrkraft ab, die ihr Vorhaben nicht selten vor anderen Lehrkräften rechtfertigen muss, anstatt Dankbarkeit zu ernten. Zudem haben Schulen oft eine falsche Vorstellung. Man glaubt, dass eine Autorin an die Schule kommt und die Schüler spätestens am Ende einer Schreibwerkstatt wissen, was ein Gedicht ist. Aber es ist eben so viel mehr als das. Literatur öffnet den Jugendlichen Fenster und Türen für ihre Zukunft. 

 

Kommen junge Leute denn überhaupt in Kontakt mit zeitgenössischer Lyrik?

Nein, auch das ist ein Problem. Viele Schüler kennen keine modernen Gedichte, waren nie auf einer Lesung und in der Schulbibliothek gibt es auch kein Buch von zeitgenössischen Dichterinnen. Als ich einmal eines meiner Gedichte vortrug, fragte ein Schüler: „War das ein Gedicht?“ Das war gar nicht böse gemeint – er hatte zuvor in der Schule immer nur Balladen gelesen und wusste, wie fast alle Schüler*innen, nicht, dass es Lyrik auch ohne Reime gibt, dass zeitgenössische Lyrik ganz ohne Zwangreime lebt.

 

Wie haben Sie selbst ihren Zugang zur Lyrik gefunden? Die Schule, so ist fast zu befürchten, hat Ihnen dabei nicht sehr geholfen?

Ich hatte eine wunderbare Lehrerin in der Grundschule. Sie ließ uns Kinder eine Geschichte schreiben, und meine fand sie so gut, dass sie den ganzen Text mit einer Schreibmaschine abtippte und der Lokalzeitung zur Veröffentlichung anbot. Die Zeitung wollte die Geschichte einer Viertklässlerin anscheinend nicht drucken. Aber das war trotzdem eine besondere Anerkennung. Später hatte ich teilweise furchtbare Lehrer, das kann man nicht anders sagen. Ich habe dann über die türkische Lyrik, die in der dortigen Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat, allmählich auch Zugang zur deutschen gefunden. Mein erstes Gedicht auf Deutsch habe ich als Jugendliche geschrieben.

 

Seit wann gehen Sie mit Ihren Schreibwerkstätten in die Schulen?

Seit 2004. Das gehört zu meinem Kampf für die Lyrik. Ich bin mit dem Dichter-Club deutschlandweit gereist, die Schreibwerkstätten fanden aber auch schon in der Schweiz, der Türkei und in den USA statt.

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Safiye Can, Kinder der verlorenen Gesellschaft, Wallstein Verlag, Göttingen 2017.



Wie genau läuft so eine Schreibwerkstatt ab?

Das zu erläutern, würde gewiss den Rahmen sprengen. Kurz gesagt: ich komme in die Klasse, stelle mich vor und biete den Schülern an, mich zu duzen und alles zu fragen, was sie interessiert. Das verringert den Abstand. Danach lese ich aus meinen Gedichten, damit sie eine genauere Vorstellung von mir und von zeitgenössischer Lyrik bekommen. Anschließend geht es ziemlich schnell an die Arbeit. Die Magie beginnt immer schon mit der Kommunikation. 

 

Geben Sie ein bestimmtes Thema vor?

Das hängt vom Projekt ab, normalerweise nicht. Ich sage: „Schreibt über das, was Euch bewegt. Ich will nur keine rassistischen und sexistischen Äußerungen.“ Das können z. B. Konflikte zu Hause sein, Erfahrungen mit Liebe oder Fremdenhass. Ein Mädchen fügte sich immer wieder selbst Verletzungen zu und wollte das in ihren Gedichten verarbeiten. Einmal schrieb ein Junge darüber, dass er schwul ist – das wusste sonst niemand in der Klasse, aber in seinem Gedicht konnte er sich alles von der Seele reden. Das war auch ein großer Vertrauensvorschuss mir gegenüber. Anrührende Erlebnisse dieser Art gibt es ständig. Es passieren in jeder Klasse Wunder.

 

Anschließend besprechen Sie die Texte?

Schon während die Schüler an ihren Texten arbeiten, können sie zu mir nach vorne kommen und sich Rat holen. Wenn sie fertig sind, gehe ich in einem persönlichen Gespräch die Texte durch. Ich spare nicht mit Lob, und ich gebe Anregungen. Wenn jemand das Wort blau verwendet, frage ich, ob das nicht konkreter geht. In der Endversion steht vielleicht tiefseeblau im Text. Oder ich gebe den Tipp, ein nichtssagendes Wort wie schön auszutauschen. So werden die Gedichte Schritt für Schritt besser. 

 

Und am Ende des Prozesses steht dann der große Auftritt auf einer Bühne? 

Manchmal ist das so, aber längst nicht immer, das hängt ganz von der Organisation der Schule ab. Auch hier habe ich wunderbare Dinge erlebt. In manchen Klassen kann sich anfangs keine einzige Schülerin, kein einziger Schüler vorstellen, vor Lehrern, Eltern und Mitschülern etwas vorzutragen. Aber sie erlangen ein großes Selbstbewusstsein im Laufe der Werkstatt, und sie meistern es sehr gut; ich bin dann sehr stolz auf sie. Für manche ist das der Anstoß, in der Freizeit weiterzuschreiben.

 

Sie haben vorhin das Wort Dichter-Club erwähnt, was hat es mit dieser Bezeichnung auf sich?

Alle, die an meiner Schreibwerkstatt teilnehmen und ein Gedicht schreiben, werden in den Dichter-Club aufgenommen. Es gibt auch einen eigenen Stempel, der mit einer besonderen Zeremonie unter das fertige, besprochene Gedicht gesetzt wird. Diese jungen Lyriker sind dann Teil einer Gemeinschaft, und sie können u.a. das Hashtag #DichterClub auf Instagram benutzen. Auf diese Weise kommen teilweise Jugendliche über die Lyrik ins Gespräch, die sich vorher gar nicht kannten. Ist das nicht großartig? 


Schulen! Interesse? 

Seit vielen Jahren kooperiert Safiye Can mit Schulen im ganzen Land sowie mit anderen Institutionen. Die Zusammenarbeit kann sehr unterschiedlich aussehen. Die Schillerschule Offenbach zum Beispiel, wo Safiye Can einst selbst die Schulbank drückte, hat ein eigenes Künstleramt geschaffen. Ein Künstler – dies kann wie Safiye Can eine Lyrikerin sein, aber auch ein Fotograf, eine Video-Künstlerin oder vieles mehr – arbeitet ein Jahr lang mit den Jugendlichen an der Schule, die an verschiedenen AGs teilnehmen können. An der Hohen Landesschule in Hanau ist Safiye Can seit Jahren Schuldichterin – dort ist sie regelmäßig zu Gast, um aus ihrem Werk zu lesen oder eine Schreibwerkstatt zu organisieren. Ein Ort, den sie immer wieder gerne aufsucht, ist auch die Martin-Buber-Schule in Groß-Gerau, wo sich die Schulleitung und einzelne Lehrer auch in ihrer Freizeit enorm engagieren, um jährlich im Januar ein einwöchiges Künstlerprojekt zu verwirklichen.

 

Jedes dieser Beispiele ist vorbildlich – Nachahmung ist ausdrücklich erwünscht! Um die Projekte finanzieren zu können, wählen die Schulen verschiedene Wege. Die Schillerschule Offenbach hat z.B. die Stiftung der Frankfurter Sparkasse 1822 und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen Thüringen als Kooperationspartner gewinnen können. Es müssen oft nicht die großen Summen aufgeboten werden, um die Schülerinnen und Schüler fördern zu können. Der Friedrich-Bödecker-Kreis hilft bei Schullesungen, und Leseförderung gibt es auch seitens mancher Literaturhäuser oder den Wissenschaftsministerien. Vom Hessischen Rundfunk gibt es für hessische Schulklassen das grandiose Projekt Junges Literaturland Hessen.

 

Kontakt zu Safiye Can über ihre Homepage: safiyecan.de 

 

Zur Person

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Safiye Can gehört zu den wenigen deutschsprachigen Lyrikerinnen, die von ihrer Arbeit leben können. Sie hat tscherkessische Wurzeln und wurde in Offenbach geboren. Ihren ersten Gedichtband Rose und Nachtigall, der mit klassischen Motiven der arabischen und persischen Dichtung spielt, gab sie 2014 heraus. Die redigierte Neuauflage dieser Liebesgedichte erscheint Anfang 2020 beim Wallstein Verlag. 2015 erschien Diese Halte­stelle hab ich mir gemacht, 2017 im Wallstein Verlag Kinder der ver­lorenen Gesellschaft. In diesem letztgenannten Buch fragt Can unter anderem nach dem Platz des Einzelnen in der Welt, nach Heimat und Zugehörigkeit. Alle Bände der Dichterin wurden kurz nach ihrer Publikation zu Lyrikbestsellern. 

Safiye Can legt viel Wert auf die Anordnung der Wörter in ihren Gedichten, auf ihre visuelle Qualität. Zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Jürgen Krätzer hat sie 2018 zwei Bände der Zeitschrift die horen mit Konkreter und Visueller Poesie heraus­gegeben. Sie ist u. a. Preisträgerin des Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreises und als Gastdozentin tätig.

Seit 2004 veranstaltet Safiye Can landesweit sowie auch im Ausland ihre erfolgreichen Schreibwerkstätten.

 

 

 

Foto oben: Jacques Fleury-Sintès; Foto unten: Wolfgang Schmidt


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